Foto: Gary Graffman Ilona Oltuski-GetClassical Als der geschätzte Pianist Radu Lupo krank wurde und ein umgehender Ersatz für sein ‘People’s Symphony’ Konzert bei der ‘Town Hall’ am 12. Januar 2014 gefunden werden musste, entschied sich der Moderator der Reihe Frank Solomon anstelle des großen Maestros für Kuok-Wai Lio, einen jungen Pianisten, der dem New Yorker Publikum bisher noch weitgehend unbekannt ist. Lio verfügte nicht nur über eine eindrucksvolle, stilistische Herangehensweise, was das romantische Repertoire betrifft, die Lupos eigenem, klaren Pianismus ähnlich ist, sondern auch über Empfehlungen von den Moderatoren seiner vorhergehenden Klavierabende; Lios Auftritte, besonders seine Schubert und Schumann Interpretationen, hatten ihm viel Ansehen verschafft. Die Tatsache, dass Lio ein talentierter Schüler von Gary Graffman ist, war sicherlich eine weitere lobenswerte Empfehlung, eine von der Sorte, die den Weg zur pianistischen Auftrittsbühne ebnet. Schließlich kann Graffman, der mit seinem gutem Namen als Pianist und Pädagoge, mehr als zwei Jahrzehnten der Leiter des ‘Curtis Institute of Music’, und unter dessen Anleitung einige der heutigen internationalen pianistischen Superstars wie Lang Lang, Yuja Wang, Ignat Solzhenitsyn und Haochen Zhang hervorgekommen sind, sehr wohl seine Magie einstreuen, wenn es darum geht, noch einen weiteren unentdeckten Pianisten zum berühmt werden zu verhelfen.
Lios Konzert, obwohl es ein bisschen schüchtern begann, kam zunehmend in Schwung, wie er mit seinen gefühlvollen und eloquenten Interpretationen von Franz Schuberts Four Impromptus, D.935 und Robert Schumanns Davidsbündler-Tänze, Op.6. in der historischen ‘Town Hall’ auf der Bühne und beim Publikum die Aufmerksamkeit gewann. Wie er gewinnend zugab, musste er “in große Fußstapfen treten,” als er für den sehr bewunderten Radu Lupo – den herausragenden Poeten an der Klaviatur, den er mit Ehrerbietung als einen ”Klaviergott” beschrieb, kurzfristig einsprang. “Ich wuchs mit seinen Aufnahmen auf, hörte ihnen zu und mochte sie sehr zu schätzen,” sagt er und obwohl Lio nicht, wie er erläutert, ausreichend Zeit hatte, sich mental vorzubereiten – es wurde ihm nur zwei Tage vor dem Konzert angetragen – unterbreitete er: “Irgendwie muss man halt immer bereit sein.” Foto : Kuok-Wai Lio Ilona Oltuski-GetClassical
Seinen zweimal im Monat stattfindenen Unterricht mit Graffman beschreibt Lio im Vergleich mit seinen vorhergehenden Erfahrungen in seiner Heimatstadt Hongkong, als eine ganz andersartige, aber ausnehmend fruchtbare Lernerfahrung. “Während in Hongkong sich alles um Disziplin drehte, ging es nun bei Curtis alles um innere Freiheit,” sagt er und beschreibt Graffman als “einen der unterstützendsten und ermunterndsten Lehrer, die man sich vorstellen kann,” und er unterstreicht damit die Tatsache, dass Graffman keineswegs unterstellt, dass seine eigenen Wege die einzige Wahrheit darstellen, die in Betracht gezogen werden sollten. Vielmehr flößt Graffman seinen Studenten Selbstvertrauen ein und gibt ihnen so das Werkzeug, ihre eigene Stimme zu entwickeln wie auch die Courage, ihrem eigenen Urteil zu vertrauen. Diese Herangehensweise wird untertützt, indem die Studenten einer Vielzahl von Lehrern und verschiedenen Methoden und Stilen vorgestellt werden. Dennoch ist es manchmal schwer, ein Gleichgewicht zu finden, meint Lio, als er sich seines letzten Jahres bei Curtis erinnert, als er exzessiv arbeitete und Graffman ihn davor bewahrte, sich zu sehr anzustrengen, indem dieser sagte: “Du must nicht so spielen, als ob du heute abend auftreten würdest.” Genauso wichtig für den Lernprozess ist die Tatsache, dass Graffman selbst ein hervorragender Pianist ist, dessen Autorität vom Großartigstem der pianistischen Tradition herrührt, was anscheinend mit seiner Rolle verflochten ist. Als ehemaliger Student bei Curtis, zunächst von Isabelle Vengerova [die Mitbegründerin von Curtis] und später von Vladimir Horowitz als seinen Lehrern, hat Graffman sich mit einer Schar von Musiker angefreundet, und erkundete so aus erster Hand die Traditionen des Goldenen Zeitalters des Klaviers und besuchte Konzerte von solchen Größen wie Hofmann, Rachmaninoff und Kapell. Was in Lios Bescheibung von Graffman heraussticht, ist seine joy de vivre; sein Enthusiasmus für alles Neue und Unterschiedliche und seine erbauliche Gemütsart und sein Optimismus: Dies sind wesentliche Qualitäten, die ein Künstler und Mentor haben sollte,” meint Lio “er personifiziert die Grenzenlosigkeit des Geistes, und wenn man sich von Ihm inspirieren läßt, fühlt man sich so, als ob es nichts gäbe, was man nicht machen könnte” – in den Händen großen Talents, die es zu befähigen gilt, keine kleine Sache.
Als Gary Graffman und seine Ehefrau Naomi hinter die Kulissen traten, um Lio nach dem Konzert zu sehen, wurde deutlich, wie sehr die Graffmans sich mit dem Leben von Garys Studenten über deren Karriere hinaus verbunden fühlen. Graffman bleibt fortwährend mit all seinen Studenten, in der Vergangenheit wie auch der Gegenwart, in Kontakt, unterrrichtet und hält sich über den Ablauf eines jeden Pianisten auf dem Laufenden; er besucht regelmässig viele ihrer Konzerte. Außergewöhnlich ist die Loyalität, die einige seiner Star-Schüler aufrecht erhalten, was seine enge Bindung zu Lang Lang miteinschließt, der, genervt von der Tatsache, dass sein großer Mentor nicht Schritt mit der letzten Technologie hält, ihn vor Kurzem mit dem neuesten Handy Model versorgt hat. “Sie rufen alle an, schreiben eine SMS oder eine E-mail,” sagt er. Der elegant kuratierte Wohnsitz der Familie Graffman an der 57. Strasse beherbergt eine ausgedehnte Kunstsammlung, bestückt mit einem bunten Gemisch von asiatischen Artefakten verschiedener regionaler und historischer Herkunft und ist komplett ausgestattet mit einer Bar, ein idealer Ort, Gäste zu bewirten.
‘Seine Musiker’ kommen oft vorbei, wie auch nach New York kommende Auftrittskünstler, einschließlich Künstler wie Evgeny Kissin, die nach einem Konzertauftritt in der Carnegie Hall gegenüber auf der anderen Strassenseite auch bei Graffmans zu Gast sind. Ganz ein Chameur, erzählt Graffman, während er hinter der Bar uns einen Drink mixt, einige Anekdoten über seine Familienherkunft, sein pianistisches Vermächtnis und seine weltweiten Reise- und Unterrichtserfahrungen, die ihn bei Laune hielten, selbst nachdem seine Auftrittskarriere ein abruptes Ende gefunden hatte. Ähnlich wie bei seinem Kollegen, dem 1964 erkrankten, geachteten Pianisten Leon Fleisher, erlitt Graffman im Jahre 1979 ein Leiden an den Streckmuskeln seiner rechten Hand, an der die Ring- und die beiden kleinen Finger schwächer wurden und sich mit unkontrollierbaren Krämpfen krümmten, was eine Fortsetzung seiner pianistischen Karriere, die auf einem zweihändigen Repertoire basiert, unmöglich machte. Dieser Zustand, der auch allgemein als fokale Dystonie bekannt ist, führte im Leben des Pianisten zu einer tiefeinschneidenen Veränderung, als klar wurde, dass ein bloßes Verändern des Fingersatzes innerhalb der Partituren nicht ausreichen würde und Graffman sein Leben entsprechend anpassen musste. Ein großes Maß an Courage, Vorausblick, Bescheidenheit und seine Fähigkeit, das Positive in den Dingen zu sehen, hervorbrachte kamen ihm in dieser schweren Zeit zu Hilfe: “Zu diesem Zeitpunkt sah es so aus, als handelte es sich um das Ende der Welt, aber zum Scluss stellte es sich als o.k. heraus,” meint er. “Sonst wäre ich nie der Leiter von Curtis geworden,” fügt er hinzu, und mit Sicherheit hätte er nicht eines der größten Vermächtnisse als Mentor für die nächste Generation von Pianisten begründen können, von denen ihn viele nicht nur dafür bewundern, die Schätze der großen pianistischen Tradition weiterzugeben, sondern ihre Sinne für die Bedeutung von Kultur in unserer Zivilisation im Allgemeinen zu öffnen. Yuja Wang war davon beindruckt, wieviel sie von Graffmans großem Wissen über ihre eigene chinesische Kultur für sich aufnehmen konnte, als sie als junges Mädchen zu Curtis kam. (Siehe meinen Artikel über Yuja Wang)
In seiner Autobiografie Journey of a Thousand Miles: My Story beschreibt Lang Lang sehr detailliert, wie sich Graffmans praktische Anleitung als Mentor immer darauf richtete, die ganze Person anzusprechen und zu inspirieren, nicht nur den Pianisten in ihm selbst; eine Erfahrung, die er wahrhaftig schätzte und ihn fortan begleitete. Graffman förderte besonders Individualität bei seinen Studenten und vermied so die Fallstricke von Eintönigkeit im Klang und Manierismus, was das Ergebnis rigider Unterrichtsformen ist. In seinen Augen spielt jeder seiner Studenten auf einzigartige Weise, mit einem spezifischen Ausdruck, der als dessen eigener erkennbar ist. Graffmans eigene Faszination mit asiatischer Kultur mag – wie er es nennt – ein angeborenes Interesse sein. “Wenn ich in ein Museum ging, blieb ich mich immer in einer der indischen, japanischen oder chinesischen Gallerien hängen,” erinnert er sich, “Ich ging buchstäblich dort verloren – man musste nach mir Ausschau halten.
Um sein pianistisches Vermächtnis zu würdigen, hat Sony die gesamten Aufnahmen von Gary Graffman im Oktober 2013 aus Anlass seines 85. Geburtstages veröffentlicht. Graffmans Auto-Biographie : Ich sollte eigentlich lieber üben, ist im Handel zu erhalten. siehe hier Ilona Oltuski – GetClassical
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