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’The Blind’ – Lera Auerbachs A-Cappella- Oper beschwört ein rituelles Erlebnis herauf


“Ich bin kein Cheer leader,“ meint Auerbach bei unserem Treffen am Tag nach der Premiere von ’The Blind’ am 9. Juli, im Rahmen des Lincoln Center Festivals (bis zum 14. Juli). “Ich versuche nicht, es irgendjemanden recht zu machen, was - nur nebenbei - nicht das Ziel irgendwelcher künstlerischer Anstrengungen sein sollte. Dennoch sollte einem Kunst etwas geben, was man noch nicht auf dieselbe Art und Weise erlebt hat und von dem man verändert werden möchte.”

Trotz Auerbachs künstlerischer Absichten sind kritische Stimmen aufgetaucht, die die ‘politische Korrektheit’ der zentralen Methapher von ’The Blind’ angreift, die zu einer Debatte über ein Symbol führen, die weitgehend ihres Kontextes enthoben ist.

Ich frage sie “warum die verbundenen Augen? Warum die potentielle aufsehenserregende Wirkung?” Sie erklärt: “Es geht mir nicht darum, die Leute zu schockieren; bei ’The Blind’ handelt es sich nicht einfach um eine ausgefallene Idee, vielmehr versucht das Stück dem Aufruf von Maeterlinck (dem Dramatiker) dem symbolischen Aufbrechen von Barrieren zu entsprechen und es bemüht sich um ein tiefgehendes psyychologisches Verständnis. Es bezieht sich auch auf einen religiösen, meditativen Zustand des Seins, das eine bestimmte, ans Licht gebrachte Erfahrung der Orientierungslosigkeit umfasst, was von der Abwesenheit des visuellen Elements noch bestärkt wird. ’The Blind’ lässt das Publikum der materiellen Welt entweichen, indem es durch die ritualistischen Elemente der Musik mentale Kommunikation erkundet und das Publikum hoffentlich mit einer persönlichen Lernerfahrung weggehen lässt, die ihm verhaftet bleiben wird und die das Potential hat, es zu verändern.

Die New Yorker Produktion unter der Leitung von La Bouchardière, die Auerbach angesichts des Fehlens einer präziseren Beschreibung als A-Capella-Oper bezeichnet, verzichtet auf ein traditionelles Bühnenbild, wie es im Jahre 2011 bei den Produktionen ihrer Partitur und Librettos im Berliner Konzerthaus und dem Moskauer Stanislavsky Theater verwendet wurde. Diese neue, innovative Produktion geht mit ’The Blind’ einen Schritt weiter, indem es die verdunkelte Bühne vorheriger Produktionen zugunsten einer extremen isolierenden Wirkung entfernt: dem Verbinden der Augen des Publikums; diese theatralische Methode richtet sich an unser extremes Vertrauen auf visuelle Wirkung und hat zum Ziel, die Fähigkeit zu hören, zuzuhören, zu riechen und die Temperatur zu fühlen beim Publikum herauszufordern und so eine erhöhte sinnliche und emotionale Erfahrung hervorzurufen. “Ein Teil der Konzeption von Maeterlinck ist eine spezifische, religiöse Assoziation und beinhaltet Zufallselemente, die in dieser Produktion auch zu einer separaten Sitzanordnung von Frauen und Männern führen,” sagt Auerbach und fügt hinzu, dass sich bei jedem Zuhörer die Erfahrung des Stückes auch etwas unterscheide, abhängig davon, wo man sitze. “Jede Inszenierung verlangt verschiedene Elemente, in dieser Besonderen war die zeitliche und räumliche Anordnung für den Fluss und den individuellen Eindruck eines jeden Zuhörers im Publikum wesentlich.”                                                                                                                                    Foto: Illustration von Lera Auerbach

Auerbach komponierte ’The Blind’ für 12 Stimmen ohne instrumentelle Begleitung (A Capella) mit liturgischen Begleitstimmen, die im Chor auf Latein singen und die harmonische Basis schaffen, die es den Stimmsolisten praktisch ermöglicht, ihre Tonlage zu finden. Sie erläutert, dass der Soundtrack, ihr elektronisches Werk ‘Nach dem Ende der Zeit’ aus dem Jahre 1992, der als Auftakt zum A-Capella-Auftritt gespielt wird, eine Trennung von zwei verschiedenen Genres bildet, die am Ende des elektronischen Bandes miteinander zu interagieren beginnen, was dem Publikum einen Übergang in einen akustischen Bereich erlaubt, und dazu dient die durch die Augenbinden entstandene visuelle Atmosphäre zu ergänzen. Die Sänger interagieren in ständig wechselnden Konstellationen, die zu großen, alle Sänger umfassenden Crescendos heranwachsen und über ausgiebige Zeiträume hinweg kuliminieren oder sich abschwächen und die Zuhörer mehr zu hören wünschen lässt. Auerbachs tonale und atonale Strukturen suchen ständig danach, sich selbst zu erneuern und schaffen mitten im Chaos eine verzweifelte Einheit.

Die akribisch choreographierten Fortbewegungen der Sänger durch das Publikum erlauben es, dass fast jedem Gast äußerste individuelle Aufmerksamkeit zukommt; man befindet sich sozusagen in der eigenen Welt. Die Auftretenden hinterlassen unterschiedliche Gerüche und bringen bemerkenswert spezifische Klänge in Verbindung mit ihren Bewegungen hervor, indem sie sich in ihrem Spielen auf die sensibilisierten Sinne der “Zuhörer” beziehen und diese vordringlich auf den nächsten vorbeikommenden Sänger warten lassen.

Zeitweise kann man Geräusche ausmachen, die das Gehen auf Kieselsteinen nachahmen sollen. Manchmal ist es eine beunruhigende Berührung scheinbar aus dem Nichts heraus, die das Rauschen im Wind andeutet. Es sind diese Details, die noch mehr die symbolische Stimmung des Einakters von Maurice Maeterlinck aus dem Jahre 1890 für jeden Zuhörer personalisieren. Die Atmosphäre ist recht frostig; es war kalt, genau wie die Charaktere im Stück, die die Kälte bejammern – natürlich ein bildlicher Ausdruck für eine tiefergehende Kälte, mit der sie ringen müssen: der Verzweifelung der Vereinsamung, physische und seelische Verlassenheit Aussetzung und dem Tod.


“Dialog im Dunkeln”, eine Ausstellung und Workshop beim ’Global Leadership’ Treffen in Davos in der Schweiz war eine Inspiration für Auerbachs Darstelllungwahrnehmung von ‘The Blind’. Die Ausstellung beinhaltete ein Kommunikationsexperiment, das es unmöglich machte, andere Teilnehmer im Workshop zu sehen. Der Gefühlszustand “plötzlich unsicher zu sein, wie miteinander zu kommunizieren sei, sich dessen bewusst zu sein, wie wenig wir einander zuhören und den visuellen Einfluss vieler Nuancen zu bemerken” hinterliess bei Auerbach einen starken Eindruck. ’The Blind’ beim Lincoln Center Festival drücken diese Erfahrungen in Form einer zusammenhängenden und dennoch beängstigenden Weise aus, zollen auf eine sensitive Weise der formalen Sprache Maeterlincks Tribut und sind, wie alles in Auerbachs Werken, mit persönlicher Überzeugung und Enthusiasmus ausgeführt.

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